Die Wahrheit des Augenblicks

Sybille Karrasch am Klavier

Unser gemeinsames Projekt, Hölderlin in Wort und Klang auf die Bühne des TheaterLabors zu bringen, ist für mich ein Abenteuer und eine wunderbare Reise in die Landschaften seiner und der Menschen-Seele.

Als musikalische Untermalerin und Mitgestalterin lasse ich mich auf das Wagnis ein, ohne die Sicherheit einer „fertigen“ Komposition, vielmehr ganz intuitiv, assoziativ und improvisatorisch auf das zu reagieren, was ich in diesem Moment höre, fühle und wahr-nehme, im inneren wie im äußeren Raum.

Wie so häufig (oder immer?) in Wolfgangs Arbeit, ebenso wie in meiner eigenen, geht es auch hier um die Wahrheit des Augenblicks.
Meine Finger ertasten auf dem Klavier Klänge zum Gehörten und auch zum Ungesagten, dem unbenannten Raum zwischen den Worten. Sie lassen sich führen, entführen, verführen von dem, was jetzt ist. Vom Empfinden des Getriebenseins, von Aufregung und Verdichtung, von tiefer Ruhe, Leere und Fülle, Düsternis und Licht, vom Sich-Dehnen in die Zeitlosigkeit.

Geschehenlassen und Gestalten

Ich weiß nicht, wo ES mich, uns als Nächstes hintreibt. Ich weiß nicht, ob es und was gelingen wird. (Was ist Gelingen?) Ich höre Hölderlin durch Wolfgangs Stimme, seine Diktion, seine Atmung. Unsere Proben erlebe ich nie als Wieder-Holung, vielmehr jedesmal als neues Abenteuer mit unbekanntem Ausgang. Dieselben Worte füllen sich unter Wolfgangs Stimmgebung mit immer neuen Farben und Bildern, Tempo, Pausen, alles ist immer neu. Ebenso wie meine Klänge am Klavier, die mich oftmals selbst überraschen und in ungeahnte Regionen leiten. Ich genieße diese Liaison von Geschehenlassen und Gestalten im Zauber des Augenblicks.Wolfgang Keuter sitzt auf ewinem Stuhl. Er trägt einen blauen Pulli und eine helle Hose.

Der Anflug einer hoffnungsvoll naiven Idee in mir, die ausgewählten Texte, schlussendlich, endlich! im Kern verstanden zu haben, hat sich im Laufe der Proben aufs Schönste aufgelöst. Angesichts der ungeheuer symbolträchtigen und manchmal verwirrenden Komplexität in Hölderlins Sprachwerk kann es ja auch gar nicht anders sein. Vieles bleibt Geheimnis, Erahnen, Annäherung. Und es bleibt die Möglichkeit, sich zu öffnen für Hölderlins Welt und die von ihm berührten eigenen inneren Landschaften. Einen Fuß in diesen vollen Garten der Bilder, Symbole und Sprachklänge zu setzen, ohne jeden Zweig, jede Blüte benennen zu können oder zu wollen.

Und beim Eingehen meines persönlichen Wagnisses, meine assoziierten Klangbilder aus dem Augenblick heraus zu schöpfen, verleiht mir Hölderlins Aufforderung viel Mut und gute Kraft, der Mensch möge „die Freiheit“ verstehen, „aufzubrechen, wohin er will“.

Was auch bleibt, ist die Freude und auch das Staunen darüber, wie sehr mir diese Arbeit, dieser gemeinsame Raum des Erlebens und Gestaltens ans Herz gewachsen ist.

Sybille Karrasch

Tickets für Sonntag den 5. September 2021