Ruhe für den nächsten Einatem
Für unsere heutige Stunde hat Wolfgang das Arbeiten mit schamanischen Gebärden im Sinn.
Der Einstieg in die Stunde läuft wieder über das Ausatmen. Wolfgang hat zurecht den Eindruck gewonnen, dass es mir noch schwerfällt, nach einem Ausatem abzuwarten, bis der Körper sich von selbst wieder neuen Atem holt. Ich neige also noch häufig dazu, den Atem nicht wirklich ganz herauszulassen und auch danach nicht in Ruhe auf den nächsten Einatem zu warten. Also geht es heute zunächst noch einmal darum, dieses Warten ganz bewusst zuzulassen, gerade ihm Raum zu geben.
Atem-Ungeduld
Wolfgang fordert mich auf, zunächst gegen einen Widerstand zu atmen, ein Geräusch wie etwa ein langes F hervorzubringen. Und er lädt mich ein, in dem Moment, in dem meine Kraft zum stimmhaften Ausatmen nachlässt, sozusagen einen anderen Weg einzuschlagen als den des schnellen, ungeduldigen Atem-Holens. Nämlich stattdessen im Vertrauen auf ein ungeahntes tieferes Reservoir an Atemluft in mir in aller Ruhe weiter auszuatmen und abzuwarten, bis von ganz allein Luft in meinen Körper strömt. Ohne dass ich etwas betreibe oder unternehme. Was meine „Anfälle“ von Atem-Ungeduld angeht, so sieht Wolfgang eine Verbindung zu den Jahren in meiner Kindheit, in denen ich gar nicht oder nur sehr selten gesprochen habe. In denen ich offenbar nicht gelernt habe, vertrauensvoll davon auszugehen, dass „es“ schon von selbst atmet.
Ein ergiebiger lauer Sommerwind
Ich lasse mich auf die Aufgabe ein. Zwischen Ausatem und Einatem – wo meine Stimme „zu Ende geht“ – lasse ich mir immer mehr Zeit und gebe meinem Erleben immer mehr Raum. Genauer gesagt: ich lasse immer mehr zu, dass dieser Raum von ganz alleine entsteht. Und ich spüre: Heute ist ein guter Tag dafür. Wider Erwarten entsteht keine Unruhe in mir. Mein Erleben ist im Gegenteil ausgesprochen und überraschend lustvoll. Die Zeit während des Atmens und dazwischen scheint sich zu dehnen.
Ich war daran gewöhnt, mein Reservoir an Restluft nach dem „Ausgehen der Stimme“ mit einer gewissen „Selbst“-Verständlichkeit als sehr knapp bemessen einzuschätzen. Und nun: gerade löst sich mein Einschätzen von zeitlichen Grenzen und Mengenverhältnissen in einen „unbedachten“, zeitlosen Raum auf, wie in tiefer Meditation. Die so knapp bemessene verbliebene Luft fühlt sich nun an wie ein ergiebiger lauer Sommerwind, der sanft über eine weite Wüstenlandschaft hinwegweht und den Sand in schwingende Bewegung versetzt, in tanzende Wellen.
„Raum der Atmung“
Noch mehr erstaunt mich der Raum danach. Da, wo ich eine Art Dringlichkeit oder sogar Not erwartet hatte, nun aber alsbald wieder neuen Atem zu holen, erlebe ich ein Stillstehen der Zeit, unerwartetes Vertrauen, Fülle inmitten der Leere. Und der Atem, der dann plötzlich in einem großen Schwall in mich hineinströmt, fühlt sich köstlich an.
Randnotiz: Einmal geht mir zwischen den Übungen durch den Kopf: Verrückt eigentlich – ich habe mich in meinem Leben so viel und intensiv sowohl bewusst als auch intuitiv mit den unterschiedlichsten Arten des Atmens und des Atem-Erlebens beschäftigt, sei es als Musiktherapeutin oder als begeisterte Liedbegleiterin oder ganz privat, nicht zuletzt auch durch und während der spannenden Stunden mit Wolfgang. Und doch ist mir gerade so, als betrete ich heute einen neuen „Raum der Atmung“. Als habe Wolfgang mir gerade eine Art Schlüssel ausgehändigt zu diesem mich so geheimnisvollen Raum, der für Wolfgang selbst sicher ein täglich bewusst begangener ist.
Wie ein Tier fühlen
Nach den Übungen fragt Wolfgang mich nach meinem Erleben. Ich erzähle ihm davon. Auch davon, dass besonders während des intensiven Zu-Atem-Kommens ein Gefühl von meinem Körper Besitz ergriff, das mir seit frühester Kindheit vertraut ist. Nämlich, dass ich mich mit einem Mal wie ein Tier fühle. Und zwar ganz umfassend, so als würde mir in diesem Augenblick ein Fell wachsen und ich mit meinem ganzen Wesen mit dieser so ganz anderen Seinsweise verschmelzen, für Sekunden, Minuten oder auch für eine längere „Auszeit“. Manchmal fühle ich aber auch einfach ganz spielerisch einzelne Aspekte dieser Identität – das alles aber, ohne den Boden, ohne „mich“ darin zu verlieren. Wolfgang fragt mich nach dem Tier, das mir da gerade in den Sinn bzw. in die Sinne kommt. Gerade ist es, wie so manches Mal, eine Wölfin.
Wolfgang erinnert sich an eine unserer Zeichen-Serien, in denen das Wölfische eine zentrale Rolle spielte. Er fragt mich danach, was ich an Höreindrücken oder -ausdrücken damit verbinde, wenn ich mich mal ganz bewusst auf einen Wolf einstelle. Zunächst fällt mir die Stille ein, verbunden mit einer alten Wölfin, die allein herumstreunt. Dann die Klänge und Laute junger spielender Wölfe. Dann das laute, weit tragende Heulen von erwachsenen Wölfen.
Wem folgen: Der aufkommenden Scham oder dem Vertrauen?
Wolfgang greift meine Bilder und Einfälle auf und lädt mich ein, mich nach und nach, zunächst im Sitzen, dann in Bewegung kommend, in die Seinsweise spielender Wölfe hineinzuführen und dafür sowohl stimmlichen als auch körperlichen Ausdruck zu finden. Wichtig dabei ist wiederum, dass ich mir für diesen Prozess so viel Zeit nehme, wie es sich stimmig anfühlt.
Bevor ich mich darauf einlasse, spüre ich, dass es außerdem noch eine Entscheidung in mir braucht. Nämlich ob ich der in mir aufkommenden Scham folge oder dem Vertrauen. Ich verstehe und kenne meine Neigung zur Scham, weiß aber auch, wie stärkend und ermutigend das Eingehen von Wagnissen sein kann. Heute gefallen mir weder der Gedanke noch das Gefühl, Lebenszeit und Möglichkeiten des Augenblicks ungenutzt verstreichen zu lassen.
Und ich spüre mal wieder, wie sehr ich Wolfgang vertraue und dem Raum, den er öffnet. Und so weicht die Scham immer mehr der Lust. Der Lust an den Klängen und Lauten, an den Bewegungen, an den inneren Bildern und Körpergefühlen, am Spielen und Zulassen. Wolfgang ermutigt und animiert mich immer wieder und fordert meinen Mut und die Intensität meines Ausdrucks heraus. Er fordert mich auf, die Bewegungen mal ganz von den Füßen ausgehen zu lassen, so dass alle anderen Körperbewegungen daraus erwachsen. Ich finde immer mehr Freude an diesem Spiel und staune selbst, in welche Regionen von Geräuschen, Bewegungen und Kraft es mich treibt.
Vielfalt der Bewegungen und der Laute
Nach einer Weile fordert Wolfgang mich auf, mein Spiel in der Weise zu verlagern bzw. zu erweitern, dass ich mir nun vorstelle, mich als spielende, tanzende und singende Wölfin auf einer Bühne zu zeigen, wie eine Schamanin, deren Name „spielende Wölfin“ oder auch „spielender Wolf“ ist.
Zu meinem Erstaunen finde ich bald großen Gefallen und Genuss an dieser Wolfs-Szenerie (bei Vollmond natürlich). Wolfgang schlägt mir nach einer Weile vor, mir vorzustellen, dass mir viele andere Wölfe zuschauen, die ich zum Mit-Tanzen und Mit-Spielen herausfordern möchte. Er fordert mich auf, dabei auch meine Krallen und meinen Schweif und wirklich meinen ganzen Körper einzusetzen.
Mittlerweile finde ich äußerstes Vergnügen an der Vielfalt der Bewegungen und der Laute, am Spielerischen wie am Kraftvollen, am Koketten, an der Verführung wie am Dominanz-Gebaren? Wolfgang wundert sich darüber, wie leicht mir dieses Spielen und diese Verfremdungen offenbar fallen, sobald ich meine Scheu und meine Scham fallen lasse, und er fragt mich, ob es nicht eine meiner Aufgaben sein könne, nicht Wölfe, sondern Menschen zu solch unkonventionellem Spielen einzuladen. Was natürlich voraussetzt, zu den ungebändigten Urkräften meines Wesens zurückzukehren und es zuzulassen, dass meine menschlichen mit meinen wölfischen Anteilen kraftvoller verschmelzen (anstatt wieder in Stummheit zu versinken). Wolfgang fallen dazu zwei Bezeichnungen ein: „lupo spectaculo“ – ein Wolf, der sich zeigt und auch etwas aufführt.
Und – quasi als schamanischer Name: „Tanzende Wölfin“, die aber auch gerne spielt und zu Spiel und Tanz verführt.
Ich freue mich heute „unbändig“ über diese wunderbare Möglichkeit, meiner gelegentlichen Tendenz mich zu verstecken oder zu reduzieren, entgegenzuwirken, spielerisch und kraftvoll. Wenn ich Zugriff habe zu den vielfältigen Aspekten meines Wesens, zu meinen Urkräften, ohne etwas ausschließen oder einzusperren, fühlt es sich an wie eine Heilung meiner Wurzeln. Wolfgang versteht und bestärkt mich gut darin.
Imaginationen üben
Bisher ist es vor allem die Musik, das Musizieren, bei dem ich mich „ganz“ fühle, aber gerade heute spüre ich, wieviel mehr an ganzkörperlicher Ausdruckskraft ich noch hinzugewinnen und in mein Leben integrieren kann. Das betrifft mein privates wie mein berufliches Leben und Wirken.
Sehr gerne nehme ich Wolfgangs Einladung mit auf den Weg, mich in der nächsten Zeit intensiv weiter in den Imaginationen zu üben, mitsamt allem, was an Tierhaftem, Sinnenhaftem und Stimmlichem dabei auftaucht.
Nach-Gedanken:
Natürlich gibt es immer wieder Schlüssel-Stunden und Schlüssel-Erlebnisse im Leben. Eine Verdichtung solchen Erlebens erfahre ich immer wieder in den manchmal sehr herausfordernden, manchmal geradezu zauberhaften Stunden mit Wolfgang, die eine Fülle an Möglichkeiten und Wegen bieten zum Erkennen, Ausdrücken und Wandeln. In der heutigen Stunde lag für mich ein ganz besonderer Zauber. Kairos. Deshalb komme ich auch gerade heute Wolfgangs Einladung nach, „mal“ ein Testimonial zu schreiben.
Liebe Sybille,
auch in deinem Bericht liegt ein ganz besonderer Zauber – der mich berührt hat und weshalb ich mich sofort hinsetze um einen Kommentar zu schreiben. Du hast dein innerstes Erleben so anschaulich in wunderschönen Worte und Bildern beschrieben. Auch ich erlebe in jeder Unterrichtsstunde die Wirkung des Zulassens von Atem und Atempause – die Störung wenn das Wünschen und Wollen dazwischen funkt und wie gut das Zulassen und mich Anvertrauen tut. Und die heilsame Kraft der Imagination! Was für ein wunderschönes Krafttier ist diese Leitwölfin – so stellte ich sie mir sofort vor, als ich deine Zeilen las. Danke für die Bilder und auch den Mut, den du mir und vielleicht auch anderen – auf der Suche nach sich selbst – damit schenkst.
Sigrid