Erfüllt von starken Eindrücken, sehe ich nach dem Spiel von Leonce und Lena die Frage nach der Aussage des Stückes auf dem „Hausaufgabenzettel“ und bin ratlos. Lieber erinnere ich mich zunächst an einzelne Momente dessen, was ich gesehen, gehört und gespürt habe.

Langeweile und Melancholie

Das minutenlange stumme Spiel von Leonce am Anfang schafft eine dichte, konzentrierte Atmosphäre. An einem starken Strick könnte man sich erhängen, genauso gut dient er aber dazu, den eigenen Standort ein- und abzugrenzen. Und da gibt es erstmal nichts Wichtigeres, als der monotonen Wiederholung von zwei bis drei Handbewegungen zuzusehen. Wie mich das als Zuschauerin in die Welt des Leonce hineinzieht. Super!

Beim Auftritt der Gouvernante bin ich fasziniert von ihrem hohen Kopfputz, von dem zwei lange Bänder nach vorne herunterhängen. Nachdem sie mit ihrer Erinnerung an irgendwelche Verpflichtungen bei Leonce in taube Ohren gerufen hat, bleibt sie im Hintergrund präsent – für alle Fälle, abrufbereit? – in warmes, abgedimmtes Licht getaucht, das ihr lebhaftes Mienen-und Händespiel aufscheinen lässt. Ist sie nach der Abweisung durch den Prinzen in ein Selbstgespräch versunken? Während Leonce seine Langeweile hegt und pflegt, wählt sie in der Einsamkeit vielleicht sich selbst als Gesprächspartnerin.

Auch Valerio vermag es kaum, Leonce aus seiner Einhegung in Langeweile und Melancholie herauszulocken. Aber er genießt sichtlich sich selbst in seinen harlekinesken Bewegungen und in seiner Sprach- und Stimmakrobatik. Es mag ja sein, dass das Leben in der Welt keinen tiefgehenden Sinn hat, aber dann soll es doch zumindest Spaß machen. Mir macht es Spaß, Valerio zuzusehen, und dabei stellt sich so nebenbei und unversehens der Gedanke ein, dass die Valerio-Figur auch eine gekonnt komprimierte Anspielung auf unsere bis vor kurzem so virulent zuckende Spaß-Gesellschaft sein kann.

Na, und der König? Er erinnert sich nur mit äußerster Mühe daran, dass er an sein Volk denken wollte. Ob er es dann auch tut, lässt er offen. Das TheaterLabor TraumGesicht setzt dieser bitter-komischen Büchnerschen Karikatur eines Politikers mit dem im Ruhrgebiet-Slang bramarbasierenden gekrönten Zappelphilipp die Krone auf…

Schon jetzt merke ich, dass mich die Erinnerung an die Vordergründe Eures Spiels zwanglos – oder zwangsläufig – an die Hintergründe führt.

Zu einem leichten Lächeln finden.

Mit Lenas Auftritt erscheint dann der Hintergrund auf der Bühne. – Trauerkleid, Brautschleier, das Kind auf dem Arm, singt sie vom großen Liebesverlangen, und ihre Stimme wird ganz brüchig dabei. Das Gefängnis einer Zwangsheirat vor Augen, scheint mir ihre Traurigkeit zugleich aus noch tieferen Quellen zu stammen. Sie beschwört das Bild der Blume, die in ursprünglicher Beziehung mit der Sonne, mit der Natur lebt. Im Gegensatz zu ihr, der Prinzessin. Das kleine Kind auf ihrem Arm ist sehr fein herausgeputzt, so als wären ihm bereits in seinen aller jüngsten Jahren Kindlichkeit, unwillkürliche Bewegungen und Lebensäußerungen geraubt worden.

In anrührendem Kontrast zu Lenas „vergitterter“ Weltsicht verkörpert die Zofe die warme Zuversichtlichkeit einer „einfacheren“ Frau, die sowieso daran gewöhnt ist, sich in die von anderen vorgegebenen Umstände zu fügen. Wie die Zuwendung der Gouvernante zu Leonce bleibt die aus dem Herzen kommende Zuwendung der Zofe zu Lena ohne Echo. Aber halt, Moment mal – es kann ja sein, dass Lena durch diese Zuwendung immer wieder durch ihre Traurigkeit hindurch zu einem feinen Lächeln findet. Im Grunde ihres Herzens weiß sie ja, dass Liebe möglich ist, nur die Verhältnisse, sie sind halt nicht so…

Geschick der Mätresse.

Als Rosetta zu Leonce kommt und er sie in einen unverhüllt-verhüllten Entlassungs-Tanz-Akt zieht, zeigt er gerade durch das „Lächeln“ in seiner Stimme die Kälte seines Zynismus – eine Kehrseite seiner Melancholie? – während Rosetta so weit geht, sich für ihn auf den Kopf zu stellen, ohne das gesellschaftlich fest verfügte Geschick der Mätresse von sich abwenden zu können. In mir als Zuschauerin: Schmerz und Wut – und hoher ästhetischer Genuss.

Die sparsam und prägnant eingerichtete Bühne, die wenigen aussagekräftigen Kostümaccessoires, das atmosphärische Spiel der Scheinwerfer – all das bin ich ja gewöhnt vom TheaterLabor TraumGesicht, aber erwähnt werden soll es schon. Ebenso wie die schöne Atmosphäre beim Ankommen und nach dem Spiel.

Noch ein Blitzlicht auf ein Gespräch mit Doris nach dem Spiel – nach unserer aktuellen Kölner Ensemble-Arbeit gefragt, erklärten Martina und ich, dass wir an einer Collage zur Endlichkeit unseres Lebens in dieser Welt komponieren. Da ergänzte Doris: „und was wir alles anstellen, bevor das Ende erreicht ist.“

Ja, vielschichtig eröffnet Euer Spiel einen Blick auf das, was wir alles so anstellen, während wir durchs Leben gehen. Und verdeutlicht in großer Leichtigkeit, was Büchners vor fast 200 Jahren verfasstes „Lustspiel“ uns heute angeht. Danke!

Ich schließe mit einer Bitte, liebe Traumgesichter: sucht doch eine Möglichkeit, das Büchner-Projekt auch nach dem 30. Dezember weiterzuführen.

Mit meinen Wünschen für weitere Spielfreude und ein frohes Weihnachtsfest grüße ich Euch herzlich.  Barbara

TheaterLabor TraumGesicht am 10. Dezember 2017