Ein völlig neuer Beginn

Seit unserer ersten Aufführung von “Wandlung 21”haben wir fleißig weiter geprobt. Am 3.10. wurden beide Szenen, neu bearbeitet und “gewandelt” auf die Bühne gebracht.

Ein völlig neuer Beginn: die beiden Schauspieler Martin Pyka und Nikolai Karrasch kamen geschminkt auf die Bühne, setzten sich ganz locker auf zwei Stühle dort am Tisch und erzählten dem Publikum von ihren Figuren A und B. Das Publikum bekam so eine Beschreibung von deren Persönlichkeit und Beziehung zueinander.

Dann wandelten sie sich mit starker Mimik, Körperausdruck und Kostümierung in die beschriebenen Figuren.

Probenfoto Wandlung21: Zwei Schauspieler im grün beleuchtetem Bühnenraum. Sie zwigen starke Gebärden im Profil.In Szene 1

Es wurden Textfragmente aus Robert Musils Stück “Die Schwärmer” benutzt. Bedeutsamer als der Text war aber das, was die Spieler in prägnanter, ruhiger Slow Acting-Spielweise mit Körper, Gebärden, Gehweise und stimmlicher Variabilität zum Ausdruck brachten. In der Beziehung zueinander ging es um Annäherung und Zurückweisung, um Sichtbarmachung von Verletztheit und Begehren, um körperliche Grenzüberschreitung und Bemächtigung. Beide Spieler zeigten, wie derselbe Satz, in unterschiedlichen Emotionen gesprochen, eine völlig andere Bedeutung erhält und seine Wirkung auf Mitspieler und Zuschauer entfaltet.

Elemente wie das Klavierspiel und das Spiel mit den Requisiten Tablett und Folie intensivierten den künstlerischen Ausdruck. Zug um Zug reagierten beide Figuren ganz langsam, aber deutlich aufeinander bis zum Wendepunkt am Schluss. Als Figur B sich voller Verlangen von hinten körperlich Figur A nähert, erst fast zärtlich und dann doch übergriffig und bedrohlich, reagiert A plötzlich und unerwartet mit schallendem Lachen. Hierdurch löst sich alle Macht und Stärke von Figur B auf und voller Entsetzen läuft sie in Zeitlupe davon. Figur A hat durch ihr Lachen Figur B zurückgewiesen, gedemütigt und überraschend das Machtverhältnis umgekehrt. Lächelnd stellt sie ihre Ordnung am Tisch wieder her. Sie hat ihre Würde zurückgewonnen.

Sehr berührt lasse ich meine Gedanken und Phantasien schweifen

Was hat diese Figur in ihrer Kindheit an Übergriffigkeit wohl alles erlebt? Ich wünschte, sie hätte es schon in ihren Kindertagen geschafft, “all´ diese Mütter, Kinderfrauen und Geliebten”, die sie geküsst und begrapscht hatten, auszulachen und ihnen damit ihre Macht zu nehmen. Damit sie im Leben später nicht so voller Sehnsucht nach Menschen, aber doch beziehungsunfähig, hätte leben müssen.

Und hätte Figur B doch weiter Klavier gespielt und sich behutsam und einfühlsam gezeigt. Sie hätte vielleicht auf diese Weise eher die Zuwendung und Nähe von Figur A erreichen können?

Die Geschichte von A und B hat sich in mir weitergesponnen. Ausgelöst durch dieses sparsame, aber intensive und ausdrucksstarke Schauspiel.

Es folgte eine beeindruckte Stille im Zuschauerraum und dann: wie erleichtert die Verwandlung zurück in die Spieler, die von ihren Figuren in der zweiten Szene erzählen. Auch hier geht es um Macht. Die Macht von Herrschenden und um ihre Angst, diese zu verlieren.

In Szene 2

Probenfoto Wandlung21: Zwei Schauspieler im grün beleuchtetem Bühnenraum. Sie zwigen starke Gebärden im Profil.Der Text ist aus Goethes “Iphigenie” entnommen.

Beide Figuren umkreisen sich langsam (Rotunden-Gang) und mit ausdrucksstarken Gebärden minutenlang, zunächst ohne Worte. Der erste Satz von Figur A leitet in die Geschichte ein und stellt die Beziehung zwischen A und B klar (“ du forderst mich, warum….?”). Jeder Satz wird von den Spielenden mehrmals in unterschiedlicher Betonung, Stimmlage, Lautstärke wiederholt und damit eine andere Gefühlslage ausgedrückt und andere Wirkung erzeugt. Es bleibt bei mir der Eindruck eines Machtkampfes auf Augenhöhe, nur jeweils mit anderen Mitteln. Der Wendepunkt wird von Figur eingeleitet durch ihren Wunsch nach einem friedvollen Abschied (“ in Widerwillen scheide ich nicht von dir!”).

Figur B nimmt das Angebot an. Ihr gelingt ein zunächst noch zögerliches “Lebewohl” und dann die Hinwendung zu A und das langsame Ausstrecken der Hand zum Abschied. Figur A reagiert unendlich langsam, wie ungläubig und angstvoll. So, als könne sie nicht sicher sein, dass diese Hand keine Waffe enthält. Doch schließlich ergreift sie mir ihrer weichen Hand die fest und entschlossen wirkende Hand von Figur B und der Abschied gelingt. Eine unglaublich beredte und berührende Szene!

Probenfoto Wandlung21: Zwei Schauspieler im grün beleuchtetem Bühnenraum. Sie zwigen starke Gebärden im Profil.Ich bin beeindruckt, wie sich durch die Zeitlupen-Perspektive des Slow-Acting Spiels die Ausdruckskraft und Intensität einer so alltäglichen, oft flüchtigen Handlung des Händereichens entfaltet.

Langsam gehen die Scheinwerfer aus, die so wunderbar in beiden Szenen die Spieler in Szene setzten, und signalisieren das Ende des Stücks. Berührte kurze Stille und dann gibt es kräftige, langanhaltenden und verdienten Applaus. Zwei gelungene Szenen sind unter Wolfgangs engagierter und einfühlsamer Regie, mit Giannis kreativen Kostümen, unter Antjes und Giannis wirkungsvoller Lichtregie und natürlich mit Martins und Nikolais Schauspielkunst entstanden.

Aus der Perspektive der Zuschauerin möchte ich noch etwas beschreiben, was mir wichtig ist

Ein Slow Acting-Schauspiel zu besuchen beinhaltet die Ermunterung zum Hinschauen und sich Berühren lassen. Vielmehr durch das, was ich sehe und fühle, als durch das, was ich höre. Zugegeben, anfangs reagiere ich auch mit etwas Ungeduld. Ich lerne sie aber loszulassen, genauso wie die Erwartung, dass auf der Bühne immer sehr viel an Aktion gezeigt werden muss. Die Langsamkeit des Spiels öffnet meine Sinne, bringt mich zur Ruhe, lässt mich ganz in diesem Moment sein, öffnet den Geist und inspiriert. Achtsamkeit, die nach innen und nach außen gehen kann.

Danke dafür!

 

PS:

Lernen kannst Du das in unserem Schauspiel-Training