Bericht über meine erste Zuschauererfahrung

Was Realität ist, wissen wir alle. Sie umgibt uns, bestimmt das Erleben unserer Umwelt jeden Tag aufs Neue. Sie ist der Gegensatz zum Traum – im positiven Sinne gemeint. Ich möchte träumen und wo geht das wohl besser als in einem „TheaterLabor“ namens „TraumGesicht“?

Innere Zustände sind das einzig Interessante überhaupt.

Schriftsteller wie Thomas Bernhard haben sich über den Begriff „Realität“ geäußert. In Romanen war ihm die Darstellung von Natur zuwider. Wieso über etwas schreiben, dass sowieso jeder kennt? „Innere Zustände sind das einzig Interessante an Literatur überhaupt.“ –so in etwa hat er es in einem Interview formuliert. Eine einleuchtende Sichtweise, wie ich finde. Gehe ich ins Theater, möchte ich keinen Alltag auf der Bühne sehen, sondern ein Stück erleben, dass mich fesselt, mir neue Sichtweisen auf das Leben eröffnet. Im besten Fall, dass mir eine neue Erfahrung vermittelt. Wenn ich darüber nachdenke, ist das doch ein hoher Anspruch!

Ein guter Traum ohne dabei zu schlafen…

Bei meinem Besuch der offenen Probe von Leonce und Lena im TheaterLabor fand ich im Grunde einen guten Traum ohne dabei schlafen zu müssen. Ich wollte sehen, wie sich etwas ganz und gar Wunderbares auf der Bühne entwickelt. Etwas, dass mich zum nachdenken bringt, was Spuren in meinem Geist hinterlässt und auch jetzt noch, mehrere Tage nach der Vorstellung, mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ich kann es wohl kaum verbergen und es ist wirklich schwierig nicht vorwegzunehmen, dass ich begeistert war von dem, was mir im Pavillon auf der Löbbeckestraße dargeboten wurde.

Leonce und Lena, ein Stück von Georg Büchner, uraufgeführt am Ende des 19. Jahrhunderts, beschäftigt sich mit denen aus heutiger Sicht klassischen Rollenklischees der damaligen Zeit. Unter der Regie von Wolfgang gibt es den verliebten Prinzen Leonce, die verstoßene Mätresse Rosetta, den verrückten aber liebenswerten „Berater“ Valerio, Prinzessin Lena und ihre Gouvernante, eine Hofdame und nicht zuletzt den König Peter.

Ein Lichtspot fällt auf die Figuren von Leonce und Lena

Eingedampft auf diese Rollen des Stücks, kommt die Handlung fast ohne Bühnenbild aus. Eine für das TheaterLabor typisch minimalistische Spielweise auf einer nicht weniger minimalistischen Bühne.
Alles ist (fast) schwarz. Die Köpfe, weiß geschminkt, bewusst überzeichnet mit Betonung auf Lippen und Augen, lassen die Mimik der Schauspieler noch intensiver wirken. Die klare Handschrift des künstlerischen Leiters Gianni Sarto, der, seines Zeichens Maskenbildner, durch seine Schminkkunst das visuelle Erlebnis um ein Vielfaches intensivierte.

Nebenbei ist er noch für Licht, Technik und Hintergrundklang zuständig. Von klassischer und elektronischer Musik untermalt entsteht so eine düstere, aber nicht angstmachende Atmosphäre. Der Lichtspot fällt auf die Figuren, setzt Akzente an den Stellen wo sie für das Schärfen der Figuren nötig sind. Der Spot geht an, das Stück beginnt – Kunst entwickelt sich vor meinen Augen.

Es ist alles irgendwie so anders, spontaner, reizvoller, unmittelbarer. Der Zuschauerraum – beengt, mit wenigen Plätzen, fast vollständig gefüllt. Alle sind still. Es ist heiß – wie in der Sauna. Der Schweiß rinnt mir in Strömen und macht das ganze Erlebnis authentischer. Ja, wie in der Sauna, nur das wir alle nicht nackt sind, sondern darauf warten, dass die Schauspieler alles von sich preisgeben. Wir, das sind die Voyeure dieser Darbietung, die auf Aktion aus sind, auf das, was normalerweise niemand sieht, denn das ist das einzig Interessante.

Das Stück beginnt.

Szene aus Leonce und Lena. Prince Leonce sitz mit einem goldenen Lorbeerkranz auf einem Hocker. Neben ihm steht die Hofadame mit einem Stapel Bücher in der Hand.Leonce kommt aus dem Seiteneingang, der auch von den Zuschauern zum Betreten des Bühnenraums genutzt wird, herein. Zuerst nur Bewegung. Willkürlich wirkende Mimik, Gestik, alles in Richtung des Scheinwerferlichts und damit in Richtung der Zuschauer. Es kommt zu Entgleisungen seiner Gesichtszüge, was seltsam und gleichsam interessant aussieht. Kein Dialog, kein Monolog. Zug um Zug bewegt sich der Prinz auf die Mitte der Bühne zu. Langsame Bewegungen – das Auge fließt mit.

Ich bin gespannt was passiert, wenn er „angekommen“ ist. Es folgt keine Ansprache, keine zweite Figur, die die Bühne betritt, sondern nur eine Prinzengestalt, die sich im Kreis dreht, ächzende Laute von sich gibt, mal hier und dort hingeht und scheinbar ohne Plan und vor allem ohne Ziel den gesamten Bühnenraum durch vermeintlich sinnloses Umherziehen benutzt.

Nach einer gewissen Zeit kommt er zur Ruhe, findet seinen Platz inmitten eines auf dem Boden liegenden Seils, welches er bereits aus dem OFF mitbringt, im Zentrum der Bühne. Vorher jedoch noch Ansätze von Selbstmordversuchen. Das Seil wird als Mordwerkzeug benutzt. Die bekannte Schlinge formt er damit, schmeißt es in die Luft um einen imaginären Halt zu erhaschen was natürlich nicht funktioniert – Fiktion eben, wie alles im Theater. Dem Zuschauer eröffnen sich durch die Aktionen dieser Figur sein Innenleben und das ohne er auch nur ein Wort sprechen muss.

Der Prinz winkt ab.

Als nächstes erscheint die Gouvernante. Mit hoch aufgetürmter Kopfbedeckung, die wie eine Kardinalsmütze das Haupt bedeckt, geht sie langsam-genau, seitwärts, urkomisch aussehend mit verrückten Kieferverzerrungen, Bücher in den Händen haltend, auf den Prinzen zu. Mir wird sofort klar, was sie will – den Prinzen, dem Müßiggang verfallend, auf die rechte Spur bringen. Er soll schließlich auf seine zukünftige Rolle vorbereitet sein, die ihn im Königreich erwartet. Ihre Sätze wirken hilflos, was ihre unkontrollierten Kieferbewegungen noch unterstützen. Fast tut sie mir leid, versucht sie doch alles, ihrer Rolle als „Erzieherin“ gerecht zu werden. Der Prinz jedoch winkt ab. Er entlässt sie und sie geht in den Hintergrund und spielt ihre Rolle weiter – abseits, in der leicht durchlässigen Finsternis des Bühnenraums, sieht man, wie sie, ihren Tics erlegen, auf einem Stuhl sitzt.
Dann kommt Valerio, der „Berater“, grazil und leichtfüßig. Schallend lachend, wie ein Clown, voller Häme, auf seinen Vorteil bedacht treibt er sein Unwesen. Er scheint überall und nirgends zu sein und mit der Langsamkeit ist es nun auch vorbei. Und diese Stimme, wunderbar! Ein Verdienst guten Sprechtrainings mit dem Regisseur, denke ich. Sie ist laut, ironisch, vielseitig, jedoch stets gut zu hören. Valerio umgarnt den Prinzen, hält ihm die schönen Seiten des Lebens vor Augen – dieser Schelm.

Fragmente.

Szene aus Leonce und Lena, Rosetta bereitet sich auf Ihren auftritt vor. Sie trägt ihr langes, schwarzes Haar offen.Nun muss ich zu meiner Schande gestehen, dass mein Kopf voll war. Eine Pause hätte mir gut getan. Die Eindrücke waren überwältigend und ich kam mit dem Verarbeiten nicht mehr nach. Ich schaltete ab. Leider. Was ich jetzt noch berichten kann sind Fragmente, die sich festgesetzt haben. Für mehr, müsste ich das Stück wieder sehen.

Da war natürlich diese Szene der Liebe zwischen Leonce und seiner Mätresse Rosetta. Ein wildes Spiel zwischen Mann und Frau, deren Leiber sich in der Mitte der Bühne berührten. Ein Reigen, choreographiert bis ins Kleinste, mit dem kraftvollen Prinzen, der seine Geliebte an sich schmiegte, durch die Lüfte warf, umarmte, fest hielt, liebkoste und die Füße küsste. Eine beeindruckende Szene, da sich hier die Schauspieler sehr nahe kamen. Mein Gefühl: Trotz eindeutiger Gesten und Bewegungen ein erotisches und nicht etwa pornografisches Schauspiel! Auch wenn der Grad manchmal schmal war, so driftete ihr Spiel nie ins Plumpe ab.

Dann war da noch der König, mit langem Barte, hilflos und in rheinischer Mundart so komisch, dass mir an dieser Stelle bewusst wurde, dass Leonce und Lena ja eigentlich eine Komödie ist. Gelächter geht durch das Publikum und auch ich konnte mir an einigen Stellen das Lachen nicht verkneifen.
Zum Schluss noch Lena, die Königin, mit wiener Akzent und piepsiger Stimme.

Raus aus der TheaterFinsternis.

Der Prinz entscheidet sich mit Valerio nach Italien zu gehen – dort endet die Inszenierung. Im Originaltext ginge es noch weiter mit der Geschichte, doch es ist genug. Genug für die Schauspieler, genug für mich. Ein schallender Applaus beendet diese Erfahrung. Meine Nerven liegen blank. Ich bin mit einer der ersten, die draußen auf dem Gang nach Luft schnappen. Raus aus der TheaterFinsternis.

Es wurden Fragebögen zu Leonce und Lena verteilt, die die Meinung der Zuschauer abfragten. Ich sehe einige Personen fluchtartig den Ausgang ansteuern. Sätze wie „ich muss das jetzt erstmal verarbeiten“, oder „ich will jetzt nach Hause“ klingen durch den Pavillon. Nicht erstaunt über diesen schnellen Abgang, beschäftige ich mich jetzt erstmal mit etwas ganz und gar „Weltlichem“: Getränke ausschenken, aufräumen, Flaschen einsammeln. Alles, was erdet, ist mir jetzt willkommen, denn ich fühle mich irgendwie leer, ohne Meinung zu dem, was ich vorher gesehen habe. Ich wusste nur, dass es mich irgendwie berührt hat, nur wie?

Resümee:

Mir wurde hier etwas dargeboten, was nichts mit der äußeren Realität, so wie wir sie kennen, zu tun hat. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Art innere Realität, die schon längst in unserem alltäglichen Leben verloren gegangen ist. Am meisten erinnert sie mich an meine Kindheit. Da wo alles noch unbeschwerter war, wo die Gefühle und das Ausleben dergleichen einen festen Platz im kindlichen Erleben hatten.

Sehe ich die Schauspieler, alle sind Teilnehmer des hauseigenen Schauspielunterrichts, die sich verfremdet und losgelöst von ihrer privaten Persönlichkeit auf der Bühne darbieten. Es entsteht bei mir ein innerer Konflikt. Meine anerzogene Regelkonformität – das „brav sein“ – streitet sich mit meinen Uremotionen, die ich und alle anderen Menschen mit auf die Welt bringen. Nichts anderes ist es: auf der Bühne sehe ich ein Stück meiner eigenen Vergangenheit, die schon längst durch Erziehung überlagert wurde.

Eine wertvolle Erfahrung und ich bin gespannt auf weitere Träume aus diesem TheaterLabor!